Sandra Hüller: Champions League - séduction Magazin Germany
KULTUR

Sandra Hüller: Champions League

Von Christina Bylow 07/06/2024
Credit: Yotam Shwartz
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Von ihrer Kunst wird nur in Superlativen gesprochen. Sandra Hüller gilt als eine Spezialistin für besonders komplexe Charaktere. Dafür gab es den Europäischen Filmpreis – und Lob aus aller Welt. Und spätestens seit ihrer Oscar-Nominierung kommt auch in Hollywood niemand mehr an ihr vorbei.

Hat die Schriftstellerin in »Anatomie eines Falls« ihren Mann umgebracht oder wird sie zu Unrecht beschuldigt? Liebt die gewitzte Lageristin aus »In den Gängen« den jungen Kollegen oder spielt sie mit ihm? Ist die Unternehmensberaterin Ines in »Toni Erdmann« allein von Ehrgeiz getrieben oder verbirgt sich hinter der optimierten Fassade Verletzlichkeit? Und könnte es sein, dass es bei all diesen Frauen gar kein Entweder-oder gibt, sondern irgendetwas dazwischen?

Egal welcher Figur sich die Schauspielerin Sandra Hüller annimmt – sie verleiht jeder etwas Undurchschaubares, Undurchdringliches. Etwas, das lange nachwirkt. Es sind komplizierte Charaktere, die um ihre Widersprüche wissen, die etwas riskieren, die ausbrechen, und sei es nur für Momente. So wie Ines, die Effiziente, die einmal völlig unangemessen Whitney Houstons »Greatest Love of All« schmettert, hingebungsvoll und zugleich unbewegt. Dafür gab es Szenenapplaus bei der Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes und für den Film auch eine Oscar-Nominierung.

Nun war Sandra Hüller selbst für den Oscar nominiert: für ihre Rolle als Schriftstellerin in »Anatomie eines Falls« von Justine Triet. Die französische Regisseurin hatte die Rolle eigens für Hüller geschrieben. Beide wurden gerade bei den César-Verleihungen in Paris gefeiert, Sandra Hüller mit dem Preis als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Mit ihrer spontanen Reaktion »Mais ce n‘est pas normal ça. Qu’est-ce qui se passe? Je suis allemande«, brachte sie das Publikum im Konzerthaus Olympia zum Lachen.

Rückblende. »Toni Erdmann« war Sandra Hüllers internationaler Durchbruch. Knapp acht Jahre liegt das zurück. Höchst produktive Jahre, in denen Hüller Theater spielte und Filme drehte, die ihr jene Qualität boten, für die sie sich schon früh entschieden hatte.

In einem Interview zu »Anatomie eines Falls« beschreibt die Schauspielerin ihre Maßstäbe: »Nachvollziehbar, reich, widersprüchlich, vielschichtig in jeder Szene« sei der Film, der im vergangenen Jahr in Cannes die Goldene Palme gewann. Aber damit nicht genug. Sandra Hüller war auch eine der beiden Hauptfiguren in Jonathan Glazers »The Zone of Interest«, der in Cannes den Großen Preis der Jury gewann. Nominierungen für die Golden Globes, den Britischen Filmpreis und den Oscar folgten.

SOUVERÄN: Sandra Hüller kann ales spielen. Auch menschliche Abgründe. Credit: Yotam Shwartz

Doch Anerkennungen dieser Art sind für Sandra Hüller Nebenwirkungen, keine Hauptsachen. Jeder ihrer Sätze bei Pressekonferenzen oder Filmgesprächen wie etwa im New Yorker Lincoln Center offenbart ihre Ernsthaftigkeit, ihre Demut, ihre Klugheit und das völlige Fehlen von Selbstinszenierung. Ihre Stimme hat einen weichen, warmen Klang. Als »Hamlet« am Schauspielhaus Bochum aber bewies Sandra Hüller, dass sie auch einen Theatersaal erbeben lassen kann.

In Glazers Film (seit 29. Februar im Kino) spielt die Schauspielerin eine jener Frauen, die sie nie spielen wollte: »Eigentlich hatte ich fest vor, niemals in meinem Leben eine Nazi-Rolle anzunehmen«, sagt sie. »Wenn Leute versuchen, die NS-Epoche nachzustellen, dann wird meistens auch eine Form von Glamour wiederbelebt, den ich ekelhaft finde.« Glazer aber stellt nichtsnach. In einem abstrakten Setting zeigt er die unmittelbare Nähe von Holocaust und biederem Familienleben am Beispiel des Ehepaars Höß, dessen Garten direkt an das Vernichtungslager grenzte. Sandra Hüller sagt über diese Frau: »In ihr herrscht völlige Leere. Und so beschloss ich, mich ihr zu nähern: dass sie nie irgendwelche persönlichen Gefühle von mir bekommen würde.«

Es muss ihr schwergefallen sein. Denn Sandra Hüller, im Leben »nice, clear and honest«, wie Justine Triet erzählt, wollte sich von Kindheit an in andere einfühlen. »Ich liebte es, Menschen zu beobachten, und wollte wissen, was mit ihnen los ist.« Viel mehr gibt Sandra Hüller, Mutter einer Tochter, von sich selbst in Interviews nicht preis. Im Jahr 1978 in Suhl geboren, ging sie gleich nach dem Abitur auf die renommierte Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Nina Hoss ist im Jahrgang über ihr. Lars Eidinger ein Kommilitone. Es sind die Perfektionisten, die Virtuosen der Branche. In »The Zone of Interest« aber ging es nicht umschauspielerische Ambition, sagt Hüller. »Es ging darum, da zu sein, zuzuhören, respektvoll mit den Menschen um uns herum zu sein.«

Und auch das sagt sie: »Ich war mir der Verantwortung sehr bewusst.«

Ich liebte es, MENSCHEN zu beobachten. Ich wollte wissen, was mit ihnen los ist