Little Simz: Lässig, klug, vibrierend

Geschrieben am 26. Mai 2025 von Redaktion
Credit: Thibaut Grevet

Kennern und Eingeweihten galt Little Simz schon länger als eine der aufregendsten und innovativsten Stimmen des HipHop. Mit ihrem neuen Album „Lotus“ ist der britischen Rapperin ein Meisterwerk gelungen.

Mitten im Sommer war es wieder so weit. 2021 gerieten die Rap-Superstars Kanye West und Drake mal wieder aneinander, hatten »Beef«, beharkten sich öffentlich, auf Social Media und in ihren Tracks. Es ging um tausend Kleinigkeiten, im Kern aber darum, wer der Größte und Genialste ist. Im Abstand von wenigen Tagen brachten beide dann ihre jeweiligen Alben heraus, West »Donda«, Drake »Certified Lover Boy«. Ein Beef polarisiert die Gemeinde, heizt die Neugier auf die neuen Werke an. So haben im Idealfall beide Kontrahenten etwas davon. Es funktionierte, beide Alben verkauften sich gut. Doch bald trat Ernüchterung ein. Sowohl Drake als auch West hatten weder musikalisch noch inhaltlich Überraschendes zu bieten. Bewährte Rollen, routinierte Posen, frisch wirkte das nicht.

Zeitgleich erschien ein anderes Album, »Sometimes I Might Be Introvert« der jungen Britin Little Simz, auf dem all das zu finden war, was West und Drake akut vermissen ließen: aufregende Sounds und Samples, mitreißende Tracks, lässiger, smarter, dringlicher, hypnotischer Rap – und vor allem Lebensnähe. Denn im Corona-Jahr 2021 war Realness vielen näher als Gangsta-Romantik oder Beschwörungen von Macht, Luxus und Potenz. Die junge Frau ließ die Platzhirsche alt aussehen. Am Ende des Jahres stand »Sometimes I Might Be Introvert« auf Platz 1 der meisten Ranglisten von Hip-Hop- und Rap-Alben. Und jeder kannte Little Simz.

Mehr als nur Hype: Little Simz definiert Realness im Rap neu

Eine Newcomerin war Simbiatu »Simbi« Abisola Abiola Ajikawo, wie die 1994 im Londoner Stadtteil Islington zur Welt gekommene Rapperin mit Geburtsnamen heißt, da schon lange nicht mehr. »Sometimes I Might Be Introvert« war, neben etlichen Singles, EPs und Mixtapes, bereits ihr viertes Studioalbum. Die drei vorherigen hatte die Kritik auch schon gefeiert, sie verschafften ihr Respekt und eine treue Fanbase.

„Lotus“: Little Simz‘ Triumphzug durch Krisen und Konventionen

Aufgewachsen ist die Tochter nigerianischer Flüchtlinge in London. Über ihre Kindheit und Jugend ist wenig bekannt, außer dass Simbiatu mit ihrer Mutter und den älteren Geschwistern in einer Sozialwohnung aufwuchs. Zu Hause lief viel Reggae und Afrobeat, Missy Elliott und Lauryn Hill gehörten zu ihren frühen Einflüssen, aber auch Tupac und Nas. Etwas anderes als gut zu sein, könne sie sich nicht leisten, das hat ihr die Mutter früh beigebracht: Als schwarze Frau in England müsse sie doppelt so hart arbeiten, um weiterzukommen.

Erste Bekanntheit erlangte sie noch vor ihrer Musikkarriere als Schauspielerin. Als Teenager trat sie 2010 in der BBC-Serie »Spirit Warriors« auf. Ab 2019 spielte sie in der Netflix-Serie »Top Boy« eine der tragenden Rollen. Das hat sie auch nicht aufgegeben. Wegen anstehender Dreharbeiten musste Little Simz jetzt sogar die Veröffentlichung ihres neuen Albums »Lotus« von Anfang Mai auf den 6. Juni verschieben. Der Juni wird ohnehin hektisch für sie. Schon eine Woche später startet am 12. Juni das Meltdown Festival in London, dessen Programm sie kuratiert. Eingeladen sind Stars und Newcomer von James Blake, The Streets bis zu Lola Young und Jon Batiste.

Das Warten aufs Album lohnt sich. Hatte Little Simz schon auf früheren Werken ihre klugen, pointierten und kämpferischen Zeilen vor imposanten, teilweise klassischen Soundkulissen vorgetragen, verschmilzt sie auf »Lotus« Einflüsse von Soul bis Samba, nimmt im Stück »Young« eine aktualisierte Punk-Attitüde an, um bald darauf Jazz-Vibes zu senden oder sich in der Single »Flood« in einen dunklen Mahlstrom von sich aufbauender Spannung und Entladung zu stürzen. Jeder Song überrascht, der eine tonnenschwer, der nächste schwebend leicht. Dabei bleibt »Lotus« eine geschlossene, vibrierende Einheit und klingt unfassbar cool. Kein einziger schwacher Moment. Little Simz macht Rap auch für Menschen attraktiv, die mit dem Genre sonst wenig am Hut haben.

Zwischen Netflix und Shakespeare

Zugleich ist das Album Dokument einer überwundenen Krise. Bevor sie »Lotus« aufnahm, hatte Simz einen Tiefpunkt erreicht. Seit ihrer Kindheit stand für sie fest: »Ich kann etwas erreichen, ich kann alles schaffen.« Aber auf einmal nagten Ängste an ihr und sie vernahm eine innere Stimme, die flüsterte: »Ich kann das nicht. An diesen Punkt zu gelangen, ist wirklich traurig«, sagt sie. »Man verliert einfach den Glauben an sich selbst. Ich hätte fast einen Zusammenbruch erlitten. Das war sehr hart.« Für Simz steht der Titel »Lotus« für Erneuerung und Wachstum und spiegelt eine Reise durch die verschlungenen Pfade des Lebens: die Zärtlichkeit der Liebe, der Stachel des Verrats, der lähmende Griff der Angst, die Depressionen eines Zusammenbruchs und das Licht, das in der Dunkelheit aufscheint, wenn die Befreiung kommt.

An Selbstbewusstsein mangelt es ihr eigentlich nicht. Selbst an schlechten Tagen sei sie noch immer so gut wie Jay-Z und reime wie Shakespeare, behauptete sie charmant großspurig 2019 in ihrem Stück »Boss«. Und »Lotus« nährt den Verdacht, das könne allenfalls nur ganz leicht übertrieben sein.

Text: Bernd Skupin