Sechs Jahre nach Tod der Modelegende Azzedine Alaïa steht das französische Haus dank Pieter Mulier wieder in der vordersten Reihe.
Und plötzlich ist Alaïa wieder überall. In Paris laufen in diesem Herbst und Winter gleich zwei Ausstellungen, die verschiedene Facetten des 2017 verstorbenen Modedesigners präsentieren: Im Musée de la Mode im Palais Galliera, das ihm schon vor zehn Jahren eine große Retrospektive widmete, läuft noch bis zum 21. Januar »Azzedine Alaïa, couturier collectionneur« mit fast 140 Looks aus der rund 20 000 Objekte umfassenden Couturesammlung, die Alaïa hinterließ.
Unter den Exponaten finden sich modegeschichtliche Kostbarkeiten von Worth, Jeanne Lanvin, Jean Patou, Cristóbal Balenciaga, Paul Poiret, Gabrielle Chanel, Madeleine Vionnet, Elsa Schiaparelli oder Christian Dior. Unter den Kreationen seiner Zeitgenossen sind Jean Paul Gaultier, Comme des Garçons, Alexander McQueen, Thierry Mugler oder Yohji Yamamoto vertreten.
FEINE SILHOUETTE: Ein Entwurf des Couturiers aus der Frühlingskollektion 1991. Blick in die Fondation Azzedine Alaïa.
Parallel dazu treten in der Fondation Azzedine Alaïa die Schöpfungen der Modeklassikerin Madame Grès in »Alaïa / Grès. Beyond Fashion« in Dialog mit denen des 1935 in Jemmal im heutigen Tunesien geborenen Couturiers selbst.
GIPFELTREFFEN: Die Ausstellung “Alaïa / Grès” zeigt die Verbindung zwischen Madame Grès (links) und Alaïa (rechts)
Spätestens da wird klar, wie bedeutend die Rolle ist, die Azzedine Alaïa in der großen Erzählung der französischen Mode spielt – und wie sehr er Teil der Fashion-Historie geworden ist. Noch viel entscheidender und überraschender ist allerdings, dass auch die Marke Alaïa zurück in der Frontline der aktuellen Mode ist. Bester Beweis ist die Sängerin Dua Lipa. Schon 2022 trug sie Alaïa auf der Bühne des »Sziget«-Festivals – und jüngst auch auf dem Cover der französischen »Vogue«. Und da die von Fans, Fashionistas und Feuilletons geliebte Sängerin derzeit nichts, aber auch wirklich gar nichts falsch machen kann, ist ihre Neigung zu Alaïa ein globales Fashion-Signal. Auch Hailey Bieber, Zendaya, Adele oder Rihanna zeigten sich schon im neuen Alaïa.
Daraus kann man schließen, dass Pieter Mulier – seit 2021 Kreativdirektor der Marke – offensichtlich vieles sehr richtig gemacht hat. Zusammen mit der Richemont-Gruppe, zu der Alaïa gehört, hat er die schwierigen Klippen umschifft, an denen ein Haus oder eine Marke in den ersten Jahren nach dem Tod (oder dem Ausscheiden) ihres namensgebenden Modedesigners zerschellen und in die Bedeutungslosigkeit gerissen werden kann.
Berühmt und global relevant wurde Alaïa in den 1980er Jahren. Seine Geschichte reicht aber viel weiter zurück: Azzedine Alaïa kam Ende der 1950er Jahre von Tunis, wo er Bildhauerei studiert und das Schneidern erlernt hatte, nach Paris. Ganz kurz arbeitete er als Assistent bei Christian Dior, bevor er für zwei Jahre zu Guy Laroche ging. Nebenbei jobbte er als Babysitter und Koch.
Ab 1960 wurde er für fünf Jahre Haushälter – und Hausschneider – der Comtesse de Blégiers, durch die er mit der Pariser Gesellschaft in Berührung kam. Zu seinen ersten Kundinnen aus dieser Zeit zählte die Schriftstellerin Louise de Vilmorin, die ihn nach seinen eigenen Aussagen in die Grundregeln des eleganten Pariser Stils einwies und ihn mit kulturellen Größen der Zeit von André Malraux bis Orson Welles bekannt machte.
Alaïas frühe Kleider trugen in den 1960ern und 1970ern auch Cécile de Rothschild, Kinolegenden wie Greta Garbo und Claudette Colbert oder die französische Schauspielikone Arletty. 1979 entwarf er Kostüme für die Tänzerinnen des Kabaretts »Crazy Horse«. Anfang der Achtziger gründete Alaïa dann, ermutigt von Freunden wie Thierry Mugler, ein Label unter eigenem Namen. 1981 zeigte er seine erste Kollektion. Für das nächste Jahrzehnt und dann wieder nach der Jahrtausendwende wurde er prägend und definierte die Mode mit.
Seine Materialien – Leder, Stretch, Strick, Bandagen – waren teils ebenso ungewöhnlich wie seine Silhouetten: körperbetont und atemberaubend erotisch. Durch perfekte Schnitte, geschult an der Historie der Haute Couture, sowie seine Art, Körper durch Verhüllung, nicht durch Entblößung zu betonen, verbot sich jeder Verdacht von Vulgarität von selbst. Nichts sah billig oder sleazy aus. Eine Frau in Alaïa war nie ein Objekt, sondern immer Herrin ihrer selbst und der Situation.
Kein Wunder, dass Grace Jones, Tina Turner, Madonna, Raquel Welch, Franca und Carla Sozzani oder Naomi Campbell zu seinen Fans zählten. Das ist die DNA dieser Mode und dieses Labels: Perfektion, Poesie, Souveränität und selbstbestimmte Sexyness. Eine starke Botschaft, aber auch eine schwierige, die für eine ständig komplexer und diverser werdende Gegenwart neu ausformuliert werden muss.
Was bedeutet diese DNA in einer Zeit, in der mehr als die traditionellen zwei Geschlechter anerkannt sind; in der einerseits Pornografie jederzeit und an jedem Ort mit einem Klick oder einem Wisch über das Smartphone zugänglich ist und andererseits über Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern und deren Rolle in Beziehungen und Sexualität so offen und breit wie kontrovers diskutiert wird wie nie zuvor? Welche Antworten kann Mode unter dem Label Alaïa auf diese Zeit haben und wie können sie aussehen?
Der Belgier Pieter Mulier scheint die richtige Wahl zu sein, um diese Antworten zu geben. Mulier ist kein unbeschriebenes Blatt, in der Modeszene kannte man den Mittvierziger schon viele Jahre als engsten Mitarbeiter von Raf Simons. Zu Jil Sander, Dior und Calvin Klein begleitete er ihn als rechte Hand. Nur den Schritt in die erste Reihe, ins Rampenlicht, den hat Mulier lange gescheut. Und die Belastung bei Calvin Klein, ständig neue Produkte und Kollektionen liefern zu müssen – bis zu 16 pro Jahr –, hinterließ bei ihm sogar einen »Fashion-Burnout«.
2018 nahm er sich eine Auszeit von der Branche. Dann kam der Ruf zu Alaïa, keiner der größten, aber einer der in der Modewelt wohl am meisten verehrten Marken. Mulier bekennt sogar, dass er sich einst vor lauter Respekt nicht einmal in den Alaïa-Store in Paris gewagt hätte. Obwohl die Richemont-Gruppe sich schon drei Jahre Zeit gelassen hatte, um einen neuen Designer für Alaïa zu suchen, hatte Mulier anfangs die Befürchtung, es könne um einen Ausverkauf gehen. Darum, aus dem fast schon mythischen Namen mit der Lancierung von Sneakern, Streetwear und dem vollem Marketingprogramm das Optimum an Rendite herauszuholen.
All dies hatte Azzedine Alaïa selbst immer abgelehnt und bei anderen kritisiert, was auch zu seiner Dauerfehde mit Karl Lagerfeld führte, dem er vorwarf, diesen Typus des permanent und massenhaft produzierenden Designers erschaffen zu haben. Doch auch Richemont wollte den Nimbus und die Exklusivität der Marke bewahren: zwei Kollektionen im Jahr und ein paar Accessoires, das ist alles.
Aber was für Kollektionen! Spätestens mit der Sommer/Herbst-Kollektion 2023 (Alaïa taktet Winter/Frühling und Sommer/Herbst) fand Mulier die Synthese der Markencodes und seiner eigenen zukunftweisenden Handschrift. In der aktuellen Winter/Frühjahrs-Kollektion hat er sie perfektioniert und die Alaïa-Formel von Eleganz und Sexyness für die heutige Generation neu definiert. Die Silhouetten sind stark, kompromisslos klar, körperbetont und fast klassisch chic, bei den Materialien finden sich aber auch durchscheinende Stoffe. Mit Leder und transparentem Latex für Röcke und Kleider führt er sogar Fetisch- oder Kink-Elemente ein. Nur dass davon nichts nach Domina-Look oder Porn-Chic aussieht, sondern selbstverständlich und souverän wirkt.
Allenfalls einen Hauch der Nähe und zugleich Entrücktheit, der Echtheit und Irrealität digitaler Welten atmen diese Entwürfe. Ein kleiner utopischer Moment auf dem Laufsteg, der zeigt: Es gibt wahrlich uninspiriertere Wege, der Zukunft entgegenzutreten, als in Pieter Muliers Vision des neuen Alaïa gekleidet zu sein.
NEW LOOKS TO LOVE: Für Winter/Frühjahr 2023/24 schuf Mulier Mode von purer Eleganz – aber mit Latex-Chic.
AUTOR: Bernd Skupin