Prinzip Collage: Der Niederländer Duran Lantink schenkt Stücken aus früheren Kollektionen bekannter Marken ein zweites, aufregendes Leben. Kreationen von zwei, drei Designern vereint er zu einem neuen und einzigartigen Stück. Was dabei entsteht, ist mehr als die Summe einzelner Teile. Es ist ein neuer Blick auf das, was Mode ist. Und wie sie künftig aussehen könnte.
»The new new new« – »Das neue neue Neu« titelte das Trendmagazin »Self Service« auf seiner jüngsten Ausgabe. Ein Cover der 500 Seiten starken, avantgardistischen Mode- und Style-Bibel aus Paris ziert eine Rückenansicht des Models Mathilda Gvarliani, das nichts trägt außer ultrakurzen Hotpants. Allerdings sind die so dick ausgepolstert, dass sie weit vom Körper abstehen. Was ist das? Lustig, sexy, smart – oder all das zusammen? Jedenfalls ist es neu, und begehrt: Für das März-Cover der britischen »Elle« schlüpfte Supermodel Naomi Campbell in genau das gleiche aufgepumpte Höschen. Sein Erfinder ist der niederländische Designer Duran Lantink. Und der ist gerade dabei, ein paar Regeln der Modewelt ziemlich gründlich über den Haufen zu werfen. Denn was er erdenkt, lebt und gestaltet, ist in mehr als einer Hinsicht tatsächlich das neue neue Neu.
Bekannt wurde der 1988 geborene und in Den Haag aufgewachsene Lantink zuerst und vor allem als Sustainable Designer. Seine besondere Art von Nachhaltigkeit setzt jedoch nicht auf Naturprodukte und kuschelige Ökolooks. Stattdessen stürzt sich Duran Lantink auf die Lagerbestände von Modemarken und Couturiers, den sogenannten Deadstock, und schenkt den Stücken aus vergangenen Kollektionen ein aufregendes neues Leben. Denn was ist besser als ein Designerkleid oder eine Designerjacke? Die Kreationen von zwei, drei Designern – vereint in einem neuen, einzigartigen Stück. Wie ein Dr. Frankenstein der Mode trennt Lantink die vorgefundenen Teile auf, dekonstruiert sie, schneidert sie um und setzt sie zu neuen Schöpfungen zusammen, die nun ihr gänzlich eigenes Dasein führen.
Natürlich berührt Lantink mit dieser Praxis neuralgische Punkte im Selbstverständnis der Modewelt – von der Frage, was schöpferische Originalität ist, bis hin zu Identität, Macht und nicht zuletzt Markenrechten der Brands. Vor allem aber erinnert er daran, dass die Fashionindustrie eine der verheerendsten Umweltbilanzen aller Branchen hat. Das liegt zum einen an den Bedingungen, unter denen Textilien produziert werden, zum anderen an heilloser Überproduktion. Immer wieder machen Vernichtungsaktionen, bei denen Mode im Wert von Millionen eingestampft wird, Negativschlagzeilen.
Duran Lantinks Arbeitsweise kann da natürlich nur geringe Abhilfe schaffen, sie funktioniert nur in der gehobenen Mode. Für den Massenmarkt ist sie kaum tauglich. Das Auftrennen und Neuzuschneiden ist arbeits- und kostenintensiv und das Material der Fast-Fashion-Marken oft so minderwertig, dass es den Prozess kaum überstehen würde. Was Lantink mit hoher handwerklicher Könnerschaft anbietet, ist ein Upcycling-Modell, eine Möglichkeit, wie man kreativ der Kleiderberge Herr werden kann, die jede Saison hinterlässt.
Nachhaltigkeit in dieser Form liegt in der DNA seines Labels und in den Studios in Amsterdam und Paris herrscht eine Zero-Waste-Policy: Kein Knopf, kein Reißverschluss, kein Stück Stoff wird weggeworfen, sondern zur späteren Verwendung aufbewahrt. Dennoch sieht sich Duran Lantink nicht als Öko-Prophet. Er erklärt: »Für mich ging es nie um Nachhaltigkeit. Es ging mir nur darum, eine neue Art der Gestaltung zu finden. Aber jetzt ist es zu einer Art problematischem Etikett geworden: Manche Leute sagen, ich sei ein Designer, andere sagen, ich sei ein Stylist, und wieder andere sagen, ich sei ein Künstler. Jetzt bin ich ein Upcycler. Aber solange ich tun kann, was ich will, ist mir das eigentlich egal.«
Das war es ihm schon immer. Bereits als Kind hat er den Kleiderschrank seiner Mutter geplündert und deren Party- und Rave-Kleider der 1980er und 90er Jahre auseinandergeschnitten und mit Sicherheitsnadeln zu neuen Outfits zusammengesteckt. Das brachte zwar Ärger, aber am Ende gaben Mutter und Tante nach und überließen ihm ihre aussortierte Garderobe. Später an der Rietveld Academie in Amsterdam musste er seine Position verteidigen. Als Modedesign galt nur das von Grund auf selbst entworfene Modell, nicht seine Collagen. Dennoch schaffte er 2013 den Bachelor, 2017 gefolgt vom Master am Sandberg Instituut. Schon ein Jahr später fand Duran Lantink internationale Aufmerksamkeit, als die Musikerin Janelle Monáe und ihre Tänzerinnen sich in von ihm entworfenen voluminösen »Vagina Pants« durch das Video zu ihrem Song »Pynk« bewegten. Inzwischen tragen Stars von Beyoncé bis Doja Cat sehr öffentlich die Looks von Lantink.
Seit einigen Saisons zeigt Duran Lantink seine Mode während der Schauen in Paris. Noch immer besteht ein gehöriger Teil der Kollektionen aus revitalisiertem »Deadstock«, ein anderer aus Restbeständen von Stoffen, Kunstfell und anderen Materialien. Vor allem dekonstruiert Lantink aber immer subtiler, immer radikaler und immer souveräner die Grammatik der Mode. Nahm er sich für die Sommersaison 2024 die Bademode vor und nähte zum Beispiel Jeans an Speedos, so rollt er für Herbst und Winter die alpine Skimode auf.
Da wird Shearling zu einem voluminös eleganten Bolero aufgepolstert und der Strickpullover zum sexy Hingucker. Strategische Schnitte, Lücken, scheinbar fehlende Teile sind neben oft voluminösen Auspolste- rungen das auffälligste Stilmittel. Viele Looks sind nicht unbedingt einem Geschlecht zuzuordnen. Keinesfalls aber wirken sie wie Unisex-Mode, viel eher multisexuell – all genders welcome. Darin liegt eine große Freiheit. Doch wieso darum viel Aufhebens machen, wenn Lantink mit skulpturalen Polsterungen und Cuts sogar der menschlichen Gestalt alternative Formen anbietet?
Seine Disruptionen beschränken sich nicht auf die Kleidung allein. Er hat Ausstellungen gemacht, Projekte mit Obdachlosen oder Sex-Workerinnen in Kapstadt realisiert. Auch Modenschauen werden zum Statement. 2021 fand eine Schau ganz ohne Publikum statt. Nur ein böse surrender Schwarm Kameradrohnen begleitete die Models, die durch ein verlassenes Gemäuer irrten. Das erinnerte noch an Covid, stellte aber auch die in der Modewelt heikle Frage von Exklusivität: Wem wird Zugang wozu gewährt? Und als man ihm sagte, er müsse »Big Names« bei seinen Schauen auf den Laufsteg schicken, ließ er für ein Projekt per KI Gesichter von Stars mit denen seiner Models verschmelzen – aber nicht die von Gigi, Bella und Kendall, sondern von Elvis oder Muhammad Ali. Ein Blick in die Zukunft?
Die Modewelt jedenfalls liebt offenbar die Elektroschocks, die Duran Lantink ihr versetzt. Gerade steht er in der Finalrunde des LVMH Prize. Für den war er 2019 schon einmal nominiert und schaffte es bis ins Halbfinale. Bis heute erinnert sich Lantink an das Gesicht von LVMH-Chef Bernard Arnault, als er dort eine Tragetasche an die Wand hängte, die halb von Louis Vuitton, halb von Gucci war: »Plötzlich stand Arnaud vor mir und zischte mich an, was das solle. Erst war ich sprachlos, dann stammelte ich ›upcycling‹. Das stellte ihn zufrieden.« Einen Traum hat Lantink aber noch. Er möchte mit den »Deadstock«-Beständen von Chanel arbeiten. Doch bis sich der heilige Gral der Mode für ihn öffnet, wird er sich wohl noch etwas gedulden müssen.
AUTOR: Bernd Skupin
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