Ein Gespräch mit Shirin Neshat - séduction Magazin Germany
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Ein Gespräch mit Shirin Neshat

Von Online Redaktion 18/12/2021
Instagram: @catminthe
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Als Shirin Neshat vor drei Jahrzehnten erstmals nach der Revolution aus dem amerikanischen Exil in den Iran zurückkehrte, fand sie unter der Repression der Theokratie ihre künstlerische Mission – und verlieh den zum Schweigen verurteilten Frauen eine mutige Stimme. Mit ihrer Ausstellung „Land of Dreams“ und dem gleichnamigen Film, der die diesjährige Biennale in Venedig eröffnete, setzte sich Neshat erstmals mit ihrer komplizierten Wahlheimat auseinander.

In Ihrem Film „Land of Dreams“ haben Sie auf virtuose Weise verschiedene Genres kombiniert: Roadmovie, Science-Fiction, Politthriller, Selbstfindungsreise. Und zugleich haben Sie Ihre ganz eigene surreale Ästhetik und Atmosphäre beibehalten.

Shirin Neshat: Dies ist mein dritter Film, er ist ebenso rätsel – haft, poetisch, emotional und politisch wie meine Kunst. Ich will die Herzen und den Verstand der Betrachter erreichen – dieser Ehrgeiz kommt aus der Kunstwelt. Meine letzten beiden Filme waren visuell spektakulär, aber entweder stimmte das Tempo nicht oder die Charaktere waren nicht ausgereift. Nun habe ich gemeinsam mit meinem Co-Regisseur und Partner Shoja Azari eine Sprache gefunden, die zwischen Kunst und Kino angesiedelt ist, ohne das Publikum zu langweilen, aber auch ohne mich einer gewöhnlichen Filmästhetik unterzuordnen.

Sie haben für diesen Film ein Alter Ego eingesetzt, eine junge, namensverwandte Iranerin – war es befreiend, Simin zu Ihrer Botschafterin zu machen?

SN: Ich habe lange mit Selbstporträts gearbeitet und glaubte, dass ich die Emotionen hinter meinen Bildern besser als jeder andere vermitteln kann. Jetzt habe ich diese Muse, die mich spielt: Sheila Vand verkörpert eine iranische Immigrantin einer anderen Generation, aber auch sie fühlt sich zwischen zwei Identitäten gespalten und bleibt eine Außenseiterin. Mir gefällt, was eine Schauspielerin als Teil ihrer selbst einbringt: die Aufrichtigkeit, mit der sich das Leben und die Kunst gegenseitig spiegeln.

Ihrem Film ging eine Ausstellung mit demselben Titel voraus – „Land of Dreams“ –, in der Sie Mexikaner, amerikanische Ureinwohner und Angloamerikaner in der Grenzregion fotografierten. Amerika war bisher nicht Ihr Thema.

SN: Ich hege eine Hassliebe zu den Vereinigten Staaten, wo ich den größten Teil meines Lebens verbrachte. Bei aller Fremdenfeindlichkeit ist Amerika zugleich ein Land des Mitgefühls und der Großzügigkeit und darin empfinde ich es als meine Heimat, während ich in meinem Herkunftsland nicht willkommen bin.

Wie haben Sie das Vertrauen der Fremden gewonnen, die Simin dann zum Teil auch in Ihrem Film interviewt?

SN: Im Mai 2019 reiste ich in Begleitung von zwei Frauen und meinem Hund nach New Mexico, um eine Fotoinstallation zu schaffen, die sich wie ein Porträt Amerikas anfühlt. Wir konzentrierten uns auf New Mexico wegen seiner ethnisch besonders vielfältigen und zum Teil sehr armen Bevölkerung, angefangen mit Albuquerque, wo etliche hispanische Einwanderer und Afroamerikaner, aber auch Weiße leben. Wir richteten ein Studio in einer Pizzeria ein und zahlten unseren Protagonisten 40 Dollar, um mit ihnen ein 20-minütiges Gespräch zu führen und sie zu fotografieren. Ich fragte sie, ob sie einen lebhaften Traum mit mir teilen würden. Dann fuhren wir weiter gen Westen und hielten – wie später Simin – vor Häusern an, die mir von der Architektur oder von ihrem sozioökonomischen Status her richtig erschienen. Manchmal wurden wir gleich weggescheucht, aber ein ehemaliger Soldat sagte zum Beispiel: „Ich war schon im Iran“ und lud uns zum Kaffee ein. Eine überzeugte Republikanerin hat uns sofort zum Filmen in ihr Haus gelassen, wo überall Elefantenfiguren herumstanden – das Symbol ihrer Partei. Ich machte die Porträts, die im Film dann als Simins Fotos auftauchen.

Credit: PR

Die USA verteufeln den Iran. Zugleich hat es Ihnen bei diesem Projekt geholfen, Exilantin zu sein.

SN: Ich wurde davor gewarnt, in New Mexico in die Reservate zu gehen. Außenstehende seien dort nicht willkommen und niemand wolle fotografiert oder gefilmt werden. Aber kaum sagte ich, dass wir Iraner sind, waren diese Menschen neugierig und offen und man erzählte mir bereitwillig Träume. Anderswo behaupteten die meisten Befragten, sie könnten sich nicht erinnern, die Männer weigerten sich fast alle. Einer der wenigen teilte seine Träume vom nuklearen Holocaust. Eine indianische Frau hatte Albträume, dass ihr die Kirche ihre Tochter wegnehmen werde, wie es ihr selbst als Kind geschehen ist. Eine Immigrantin suchte im Traum vergeblich nach ihrem zerstörten Dorf. Träume handeln meist von unseren Ängsten und darin sind sie einander sehr ähnlich.

Simin muss für das Census Bureau nicht nur Basisdaten erheben, sondern sie soll die Bevölkerung auch nach ihren Träumen befragen. Eine ungeheure Indiskretion seitens einer Regierungsbehörde.

SN: Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft und das Census Bureau ist eine Mischung aus einer Regierungsbehörde und einem Unternehmen wie Twitter oder Facebook, dessen Macht sich auch in der Architektur und im Produktionsdesign spiegelt: Die Computer sehen nach Sci-Fi aus, aber die Büros selbst sind altmodische bürokratische Orte mit endlosen Fluren. Die Atmosphäre ist zugleich futuristisch und archaisch im Sinne einer Kfz-Zulassungsstelle, deren Technologie eine Million Jahre von Instagram entfernt ist. Ich wollte dieses Missverhältnis überspitzen.

Träume haben auch eine subversive Qualität: Sie offenbaren die Widerspenstigkeit der menschlichen Psyche.

SN: Aber es ist den sozialen Medien und Agenturen gelungen, das Unterbewusstsein der Menschen zu erreichen. Sie kennen die intimsten Details ihrer Benutzer, von der Politik bis zur Kleidung. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich über Träume, Sorgen und Ängste informieren wollen.

Simin unterstreicht ihre Identität mit einer strengen, schwarzen Uniform. In diesem wetteruntauglichen Outfit marschiert sie sogar unbeirrt durch die Wüste.

SN: Das kommt von mir. In meinen Videos tragen die Frauen, die mich repräsentieren, immer Schwarz und sie haben immer große Augen. Simin ist sowohl in der iranischen als auch in der amerikanischen Gesellschaft eine seltsame Figur: ein Original. Sie ist extrem zwanghaft, legt die Dinge jeden Tag an den gleichen Platz, folgt ihren Ritualen. Mir hat die Wiederholung immer sehr geholfen, ein Gefühl der Kontinuität in einer höchst unsicheren Welt zu schaffen: Ich schminke mich immer gleich, ich trage nur Schwarz, mein Stil ändert sich nie. Diese Rigidität, diese Disziplin gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.

Und sie unterstreicht zugleich ihr Anderssein. Mark, ein junger Poet, verliebt sich auf Anhieb in Simins fremdartige Erscheinung. Sie fungiert als Projektionsfläche für seine romantische Verehrung Persiens als Land der Dichter und Mystiker: „Ich bringe dich nach Hause, in das Land der Nachtigallen und Rosen“, sagt er zu ihr.

SN: Wir haben so viel zur Welt beigetragen – Rumi, Hafis, Attar of Nishapur –, doch wir sind vor allem berühmt für Chomeini und den furchtbaren Fanatismus, der seit der Revolution regiert. Exotismus und Orientalismus sind typisch für das, was ein Iraner in den USA erfährt – gepaart mit Misstrauen. In der Gestalt von Simins Beschützer Alan, einem zynischen Supermacho und Motorradcowboy, hat der naive, sanfte Mark seinen Gegenpol. Beide sind zugleich attraktiv, aber auch irgendwie erbärmlich. Keine realistischen Figuren, sondern sie verkörpern widersprüchliche Aspekte der amerikanischen Kultur: den Überlegenheitskomplex und die einladende Haltung. Ich fühle mich zu beiden Seiten hingezogen.

Credit: PR

In Jean-Claude Carrière, der etliche Drehbücher für Luis Buñuel schrieb, hatten Sie einen idealen Komplizen für Ihre eigenen surrealen Neigungen – zum Beispiel in der Szene mit Isabella Rossellini: Via Zoom dominiert sie ein Abendessen mit ihrer Exzentrizität und beim Zuschauer kommt schließlich der Verdacht auf, dass sie sich in einer Anstalt befinden könnte.

SN: Es war Jean-Claudes letztes Drehbuch, er starb kurz nach der Vollendung des Films. Als Franzose hatte er einen besonderen Blickwinkel auf Amerika, meiner eigenen Hassliebe sehr verwandt. Mit der Fotografin Mary Ellen Mark, die Arme und Außenseiter porträtierte, war er einst durch das ganze Land gereist. Wir sahen Simins Geschichte aus der gleichen Perspektive. Sein Surrealismus hatte eine Leichtigkeit, doch er war auch immer politisch: messerscharf. In Buñuels „Dieses obskure Objekt der Begierde“ spielen zwei ganz verschiedene Frauen dieselbe Figur und der Zuschauer muss das hinnehmen. Den Zauber dieser Unverfrorenheit hat das heutige Kino verloren.

Die amerikanische Wüste ist der zentrale Schauplatz in „Land of Dreams“. In einer Szene fährt Simin nachts durch die nackte Landschaft und hört eine schmelzende persische Musik. Der Zuschauer weiß, man ist in Amerika, auch wenn es vielleicht fast so aussieht wie im Iran: Zugehörigkeit und Verlorenheit liegen direkt nebeneinander.

SN: Ich lebe in New York und wenn ich aufs Land fahre, dann bedeutet das Wald oder Strand. Als wir in New Mexico ankamen, war das für uns Iraner sehr emotional: Es fühlte sich an, als wären wir nach Hause gekommen. Die letzte Szene, in der Simin die Fotos ihrer Familie in einem großen Kreis ausbreitet – das ging nur in der Wüste. Aber sie legt auch die Bilder von all den Amerikanern dazu, die sie fotografiert hat. Und das bringt die Dualität ihrer Existenz auf den Punkt.

Hat Ihre Reise, zuerst mit den Fotos und jetzt mit dem Film, Ihre Vorstellung von Amerika verändert? 

SN: Ich akzeptiere endlich auch meine amerikanische Seite. Von den Einwanderern, die Amerika ihr Zuhause nennen, habe ich gelernt, dass ich mein Leben nicht in Nostalgie verbringen muss.

Zugleich hatte die Rückkehr in Ihr Heimatland nach der Revolution nach vielen Jahren der Abwesenheit Ihre Kreativität freigesetzt hat, sie war der Schlüssel zu Ihrer ganz persönlichen Vision von Kunst.

SN: Als Künstlerin nimmt man sich die Freiheit, anderen etwas sehr Persönliches zu zeigen, womit sie sich identifizieren können. Oder man nimmt den Schmerz anderer Menschen und macht ihn persönlich. Darum geht es in der Kunst: um Kommunikation, um das Teilen von Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten.