VIVA LA VIDA - Eine Reise nach Mexiko-Stadt - séduction Magazin Germany
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VIVA LA VIDA – Eine Reise nach Mexiko-Stadt

Von Florian Siebeck 09/10/2022
Credit: unsplash
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Gefährlich, chaotisch, anstrengend: Lange Zeit kam eine Reise nach Mexiko-Stadt einer Mutprobe gleich. In den letzten Jahren hat sich die pulsierende METROPOLE regeneriert. Verfallende Prachtbauten wurden renoviert, Parks gepflegt. Die Lebensfreude kehrte zurück. Während sich die Szene-Hotspots rasant wandeln, hat sich im Viertel Coyoacán das Ursprüngliche erhalten. séduction-Autor Florian Siebeck traf dort auch auf die Spuren der berühmtesten Bewohnerin: Frida Kahlo

Ein Spaziergang durch Coyocán

Und plötzlich stehen wir in einem großen Garten. Von außen hatte das Haus ganz unscheinbar ausgesehen, eine Tanzschule. Doch hinter einer kleinen Tür verbirgt sich ein herrschaftliches Anwesen – 300, 400, vielleicht 500 Jahre alt? Terrakottafliesen auf dem Boden, weiß getünchte Wände mit azurblauen Einfassungen, Vogel zwitschern im Kanon. Hinter einem Philodendron, der sich im Wind wiegt, kommt ein kleines Café́ mit Bugholzstühlen zum Vorschein, daneben eine Galerie.

„Ist es nicht wunderschön?“, fragt Mariel Esqueda. Die 30 Jahre alte Mexikanerin hat bis vor Kurzem noch im Familienunternehmen gearbeitet, schon ihr Großvater baute Kamine. Dann reiste sie nach Europa, wurde Au-pair – und schaute nach ihrer Rückkehr mit anderen Augen auf ihre Heimat. „Ich studierte Sozialanthropologie und Geschichte, um mein eigenes Land besser kennenzulernen.“ Als die Pandemie kam, ergriff sie die Gelegenheit und wurde Reiseführerin. Heute führt sie Besucherinnen und Besucher durch ihre Stadt, am liebsten durch das Viertel Coyoacán, wo sie geboren wurde und aufwuchs. „Meinen ersten Job bekam ich mit 15 in einem traditionellen Restaurant, wo es heute noch so riecht wie damals, meinen ersten Kuss bekam ich am Kiosk dort drüben.“

Coyoacán liegt im Süden von Mexiko-Stadt, und anders als ein paar Blocks weiter ist das Leben hier zwanglos und unaufgeregt. Unser Spaziergang beginnt in den Baumschulen von Coyoacán, einer 39 Hektar großen Parkanlage. Wir gehen durch enge, gepflasterte Straßen, vorbei an kolonialen Herrenhäusern und lebhaften Markten, an Kapellen, Kirchen, Klöstern. Gehört dies alles wirklich zu Mexiko-Stadt – einer Megacity, über die lange Zeit nur mit Schaudern gesprochen wurde?

Eine Metropole blüht auf

Es lasst sich nicht leugnen: Die Metropole ist in den letzten Jahren zu einem beliebten Reiseziel geworden. Immer mehr Kreative lassen sich hier nieder. Besonders die Pandemie spielte der Stadt in die Karten. Als alle Lander ihre Grenzen schlossen, blieb Mexiko offen – und seine Hauptstadt wurde zum Zufluchtsort für pandemiemüde Reisende aus aller Welt. „Die Leute haben erkannt, dass Mexiko nicht nur aus Cancún, Tulum und Playa del Carmen besteht“, sagt Mariel.

Und sie haben eine ganz neue Metropole kennengelernt. In den letzten zehn Jahren wurde Mexiko-Stadt einer ehrgeizigen und bitter notwendigen Renovierung unterzogen, die vor allem in den beeindruckenden Kolonialgebäuden zum Vorschein kommt.

„Überall ist es sauberer geworden“, sagt Mariel. Parks werden gepflegt, die Markthallen reguliert, Bahnen und Busse erneuert.

Nicht ganz unbeteiligt an dieser Entwicklung sind auch Menschen wie der Hotelier Carlos Couturier. Vor 20 Jahren eröffnete er das erste Boutique-Hotel des Landes, das „Habita Hotel“, ein paar Jahre später das „Condes DF“. „Das Einzige, was es für Touristen in Mexiko gab, waren die brutalistischen Bettenburgen, die die ganze Riviera Maya verschluckten.“ Er wollte ein anderes Mexiko zeigen: eines, das die mexikanische Kultur, Architektur und Lebensart feiert. Eines, das so global und modern ist, wie er und seine Mitstreiter sich fühlen. „Die Welt dachte, Mexiko-Stadt sei schmutzig, ersticke im Stau und in Gewalt“, sagt Couturier. „Diese Vorstellung wollten wir ändern.“

Die wahre Seele der Stadt

Nur eines ist geblieben: das organisierte Chaos. In den Boho-Enklaven La Condesa und Roma, in denen die Nacht nie zu enden scheint, fahren noch heute die Karren, die heiße Tamales – gefüllte Maisblätter – und gebackene Süßkartoffeln verkaufen. Neue Restaurants und Bars sind gut besucht. Doch die wahre Seele der Stadt lernt man abseits der baumgesäumten Alleen mit ihren Instagram-tauglichen Straßencafés und Taco-Lokalen kennen, abseits der Touristenmassen, die sich in Vierteln wie dem Centro Historico tummeln. Genauer: in Coyoacán. „Hier lebten schon Menschen, bevor die Spanier im 16. Jahrhundert kamen“, erzählt Mariel. Es war ein Altépetl, wie man hier sagt, eine Art Stadtstaat mit eigenem Herrscher. Nach dem Fall von Tenochtitlan ließ sich hier der Konquistador Hernán Cortés nieder und begründete die neue Hauptstadt des Marquisats.

Das Haus von Cortés steht noch immer hier, so wie das ganze Viertel aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Selbst nach Jahrzehnten der Zersiedelung von Mexiko-Stadt hat sich Coyoacán mit seinen gepflasterten Straßen und bunten Plätzen einen dörflichen Charme bewahrt. Der dichte Verkehr lichtet sich, der Lärm der Straßenmusiker rückt in den Hintergrund, nur das Rascheln der Blätter und eine frische Brise sind noch zu vernehmen. „Es fühlt sich ein bisschen wie eine Zeitkapsel an“, sagt Mariel. Viele wichtige Künstlerinnen und Künstler haben hier gelebt. Maler, Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Revolutionäre, Persönlichkeiten des politischen Lebens. Oft waren sie alles zugleich.

Zu Besuch bei Frida Kahlo

Die bekannteste von ihnen ist Frida Kahlo. Die Casa Azúl, Geburtshaus und letzter Wohnsitz der Künstlerin, ist heute ein Museum, das einen faszinierenden Einblick in ihr Alltagsleben bietet, das sie mit ihrem Ehemann und Künstlerkollegen Diego Rivera teilte. Bis vor wenigen Jahren war das Haus, das in einer ruhigen Wohnstraße zwischen ähnlichen, noch immer privaten Häusern liegt, kaum besucht, doch spätestens seit dem Film „Frida“ mit Salma Hayek schlängeln sich die Wartenden um den ganzen Häuserblock.

Im Salon, in dem Frida und Diego bemerkenswerte Besucher und Freunde wie Sergei Eisenstein, Nelson Rockefeller und George Gershwin unterhielten, befinden sich einige von Kahlos Werken, im Raum nebenan hängen vorspanische Halsketten und Volkstrachten im Tehuana-Stil an der Wand, die den Signature Look der Künstlerin ausmachten.

Persönliche Erinnerungsstücke wie Fotografien, Postkarten und Briefe zeichnen ein beeindruckendes Porträt der beiden Künstler, die neben zeitgenössischen Malern wie José Maria Velasco und Paul Klee auch mexikanische Volkskunst und prähispanische Artefakte sammelten. Das gesamte Haus inklusive des Ateliers ist so erhalten worden, wie es kurz vor dem Tod Frida Kahlos im Jahr 1954 aussah. Diego Rivera starb drei Jahre später.

Gleich um die Ecke steht das ebenfalls in ein Museum umgewandelte Haus von Leo Trotzki. Der mit dem Künstlerpaar eng verbundene marxistische Revolutionär – er hatte eine kurze, aber leidenschaftliche Liebschaft mit Frida Kahlo – wurde im August 1940 in seinem Arbeitszimmer von einem sowjetischen Agenten mit einem Eispickel ermordet. Trotzkis Bademantel hängt noch immer an dem Haken, an dem er ihn zurückließ.

Ein Besuch des Mercado de Coyoacán sorgt für etwas Leichtigkeit. „Viele verbringen hier einen Nachmittag mit Freunden oder der Familie“, sagt Mariel. In der Luft liegt der Duft von köchelndem Schweinefleisch und aufgewärmten Maistortillas; Anwohner und Besucher schlendern durch die überfüllten Gänge, kaufen Obst und Gemüse, Haushaltswaren oder Piñatas; Tacos, Tortas, Sopes.

„Die Tostadas musst du unbedingt probieren!“, sagt Mariel. Knusprige Tortillas, die manchmal mit Knoblauch und Tomaten bestrichen sind und meist mit einer Schale Olivenöl serviert werden. Eine schnelle Mahlzeit in dieser schnell getakteten Stadt, in der sich dennoch Ruheinseln entdecken lassen.

„Mexiko ist ständig im Wandel und expandiert, aber manche Orte ändern sich scheinbar nie“, sagt Mariel. „Ich liebe Coyoacán. Es ist wie ein eigenes Zuhause in dieser riesigen Stadt. Es ist ein Privileg, zu diesem schonen Ort zu gehören.“ Manche Gäste, erzählt sie, kommen nach einer Tour wieder zurück nach Coyoacán. Nicht für einen Tag, sondern gleich ein paar Monate. Im Windschatten der Großstadt lässt es sich entspannt arbeiten und leben.