Interview: Carlotta de Bevilacqua - séduction Magazin Germany
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DESIGN

Quanten-Revolution: Im Gespräch mit Carlotta de Bevilacqua

Von Florian Siebeck 04/04/2023
Credit: PR

Artemide-Chefin Carlotta de Bevilacqua über die besondere Kraft des Lichts

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Carlotta de Bevilacqua leitet die Leuchtenfirma Artemide. Im Interview spricht die Architektin über Licht als sensorische Erfahrung, Humanismus als Leitmotiv und warum es gut ist, auch mal im Dunkeln zu sitzen.

Carlotta de Bevilacqua sitzt in ihrem Büro und versteht die Welt nicht mehr. „Der Hunger. Das Klima. Die Ungerechtigkeit!“, sagt die Italienerin. „Es ist zum Verzweifeln.“ Wir sind verabredet, um mit der Artemide-Chefin über ihre Arbeit zu reden, aber schnell stellt sich heraus, dass Licht für Bevilacqua weit mehr ist als nur schöner Schein. „Es hat die Kraft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen“, sagt die Designerin.

Dostojewski schrieb mal, Schönheit werde die Welt retten. Wenn Sie sich die Krisenherde dieser Welt anschauen: Können Sie diesem Glaubenssatz noch etwas abgewinnen?

Was ist Schönheit? Eine griechische Skulptur? Ein Gemälde von Leonardo? Schauen Sie: Schönheit ist ein harmonisches Maß, eine Synthese aus vielen Dingen. Für mich ist Schönheit in erster Linie Design. Damit meine ich keine einzelnen Objekte oder Produkte, sondern eher Visionen. Der Ausgangspunkt aller Schönheit ist Energie. Die Energie des Planeten, aber auch die zwischenmenschliche Energie. Die Energie, die für das Licht sorgt. Insofern: Ja, ich glaube an diesen Grundsatz. Ich sehe mich als Entdeckerin auf der Suche nach Schönheit. Nicht nach einer einzigen Schönheit, sondern nach allen Schönheiten dieser Welt.

Als Chefin von Artemide beschäftigen Sie sich täglich damit, die Welt durch Licht ein bisschen schöner zu machen.

Licht zu gestalten ist vor allem eine ethische Geste. Licht ist so wichtig wie Wasser und Luft. Ohne Wasser, ohne Luft, ohne Licht gäbe es keine Welt, keine Menschen, keine Natur. Führen Sie sich mal vor Augen, welchen Fortschritt wir seit dem 18. Jahrhundert durchlebt haben: Viele Menschen verdanken Edisons Glühbirne eine enorme Steigerung ihrer Lebensqualität. Und da hörte es nicht auf. Auf Helgoland wurde die moderne Physik geboren, und die Quantenmechanik löste eine technologische Revolution aus, deren Folgen wir heute noch gar nicht absehen können.

Sie sind eigentlich studierte Architektin. Hätten Sie lieber Physik studiert?

Ich habe mich für Architektur entschieden, weil sie mehr Fehler erlaubt als die Physik. Und weil man Unzulänglichkeiten durch Kreativität kaschieren kann.

Ihre Mutter war Architektin …

… meine Tochter ist es übrigens auch. Aber das hat bei der Berufswahl keine Rolle gespielt. Ich habe mich für die Architektur entschieden, weil sie die Kultur des Tuns ist. Architektur zu machen bedeutet, etwas zu gestalten, in dem die Menschheit in all ihren Formen leben kann. Ich bin ein Kind der 60er, meine Generation strebte den politischen und gesellschaftlichen Wandel an. Ich wollte immer Teil von Veränderung sein, und in der Architektur konnte ich mein klassisches Wissen mit technischer Innovation und sozialen Visionen zusammenbringen.


NAHTLOS: „Alphabet of Light“ entstand gemeinsam mit dem dänischen Architekturbüro BIG. Das System kommt wie eine unendlich erweiterbare und biegsame Leuchtstoffröhre daher; Credit: PR

Zu Artemide kamen Sie eher zufällig: Sie lernten den kürzlich verstorbenen Firmengründer Ernesto Gismondi kennen. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Treffen?

Ich begegnete Ernesto auf den Stufen der Mailänder Triennale. Es war wie im Film: Ich ging die Treppen hinunter, er hinauf, unsere Blicke trafen sich. Er hatte strahlend blaue Augen. Ich war 27 und er 53, aber ich fühlte mich viel älter als er. Abends gab es ein Dinner und Ernesto saß mir gegenüber. Ich dachte zuerst, er sei so ein typischer reicher Schnösel. Aber er war ein Genie. Ein Katalysator für Ideen, völlig furchtlos. Die Leute liebten ihn.

Mit Ernesto fanden Sie nicht nur die Liebe Ihres Lebens, sondern auch eine Art Berufung.

Er war Ingenieur, ein Macher. Und ich eine Kommunistin, die die Welt retten wollte. Ich habe mich mehr für die humanistischen Aspekte des Lichts interessiert, für die Beziehung zwischen Licht und Mensch. Dabei hatte ich das große Glück, eine Revolution mitzuerleben: nämlich die der Photonik und der Elektronik. Das eröffnete völlig neue Wege. Also habe ich zu Ernesto gesagt: Ihr solltet aufhören, Leuchten zu produzieren, und anfangen, Licht zu entwerfen.

Wie meinten Sie das?

Design wird oft als Form wahrgenommen. Zu Unrecht, denn Form ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck der technologischen Grenzen und Möglichkeiten. Vor der Form kommt immer der Mensch und seine Umwelt. In meiner Arbeit ist die Form nur die Synthese, das Ergebnis der Konvergenz von technischer Innovation und einem anthropologischen Ansatz. In den 90ern starteten wir eine Kampagne, „The Human Light“. Sie stellte das Licht selbst und nicht das Produkt in den Mittelpunkt. Leuchten sind schließlich nur ein Teil des Lichts. Unser Ziel war es, den Menschen zum Autor seiner Umwelt zu machen. Wie in diesem schönen Satz von Tanizaki Jun’ichiro: Schalten wir erst mal das Licht aus, dann sehen wir weiter.

Was bedeutet das?

Tanizaki sagt: Wenn ich alles ausschalte, gibt es kein Licht. Nur Dunkelheit oder Schatten. Erst dann können wir anfangen, den Raum zu entdecken und letztlich auch zu verstehen. Wenn nicht, dann werden wir vom Licht kolonisiert. Natürlich hat er das poetischer formuliert, aber die Essenz ist dieselbe. (Carlotta de Bevilacqua steht auf und schaltet die Leuchten im Zimmer aus, eine nach der anderen.) Spüren Sie das? Es ist wie bei der Meditation, nur dass Sie hier mit einer visuellen Stille beginnen. Und dann schalten Sie die Leuchten an, alle nacheinander. Sie lernen, der Realität mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wir haben deshalb auch eine App entwickelt, mit der Sie bis zu 500 Beleuchtungsfunktionen in einem Raum steuern können. Sie sind ja kein Opfer Ihrer Umgebung.

Ihre Arbeit wurde in den 90er-Jahren maßgeblich von einer technischen Neuerung getragen – der LED. Welche Folgen hatte das für die Gestaltung von Licht?

Die Einführung der LED stellte einen Paradigmenwechsel dar. Sie hat die Art und Weise, wie wir entwerfen, völlig verändert. Plötzlich gab es keine Grenzen mehr, man konnte Lichtgestaltung völlig neu denken. Wir sollten die LED nicht als traditionelle Lichtquelle betrachten, sondern als ein Phänomen der Quantenmechanik. Wir durchleben gerade eine Revolution, die mit einem epochalen technologischen und wissenschaftlichen Wandel verbunden ist. Und der wurde durch die LED und die Quanteninterpretation des Lichts eingeleitet. Die Gestaltung von Licht beschränkt sich nicht mehr nur auf die Gestaltung von Leuchten, sondern beinhaltet längst auch die Entwicklung von Interaktionen, Sensoren, dem Internet der Dinge. Leuchten sind heute in der Lage, auf intelligente Weise mit dem Menschen zu interagieren.

Wie kann man das verstehen?

Licht kann auf zwei Arten interpretiert werden. Einerseits als Wellenlänge, also ein Spektrum, das vom menschlichen Auge wahrgenommen wird und unser psychologisches und physiologisches Wohlbefinden beeinflusst. Aber auch als Energiemenge, die aus winzigen Energieteilchen oder Photonen besteht. Die Photonik, ein Zweig der Optik, befasst sich mit der Kontrolle der Lichtenergie und wird unser Leben und unsere Gewohnheiten revolutionieren. Es fördert das Wachstum von Natur und Umwelt und kann sogar Daten und Informationen übertragen – im Übrigen rund 30-mal schneller als Wi-Fi. Nur weil wir das Licht in Wellenlängen wahrnehmen, heißt das nicht, dass es da nicht noch mehr gibt. (Carlotta de Bevilacqua schiebt einen transparenten Rahmen heran.) Schauen Sie, das hier ist „Discovery“. Ausgeschaltet wirkt die Leuchte wie eine transparente Scheibe in einem Rahmen. Eingeschaltet sehen Sie eine leuchtende Fläche. Damit können wir die Umgebung erhellen, aber auch desinfizieren und Daten übertragen. Wir können den ganzen Strom nutzen und verlieren keinen Tropfen kostbarer Energie.

Kann Licht in Zukunft also als Material genutzt werden, ähnlich wie Holz oder Beton?

Licht ist ein großartiges Material in der Raumkonstruktion. Mehr als alle anderen kann es einer Umgebung Form und Identität verleihen, indem es eine Beziehung herstellt, die Menschen in vielfacher Hinsicht miteinbezieht: wahrnehmungsbezogen, kommunikativ, emotional, aber auch psychologisch und sogar physiologisch.

Arbeiten Sie deshalb so gern mit großen Architekten wie Jean Nouvel, Norman Foster oder Neri&Hu zusammen?

Es gibt keinen Raum ohne Licht und kein Licht ohne Raum. Kaum jemand versteht das so gut
wie Architekten. Sie betrachten Licht im räumlichen und humanistischen Kontext. Sorgen für
das Wohlbefinden der Menschen. Dafür, dass man sich einem Raum zugehörig fühlt. Ich finde, jeder
hat ein Recht auf gutes Licht. Manchmal rücken die Entwürfe der Architekten bei der Gestaltung in den Hintergrund, andere Male sind sie wahre Showstopper. Das ist das Talent der großen Architekten. Leute wie Michele De Lucchi oder Norman Foster sind am Ende ausdrucksstärker als mancher Designer.

Was muss bei der Gestaltung von Licht beachtet werden?

Die Arbeit mit Licht erfordert heute eine große technische Kompetenz. Was wiederum die Fähigkeit
voraussetzt, möglichst offen an die Sache heranzugehen. Wir stecken viele Ressourcen in die Forschung
und helfen den Architekten und Designern, die für uns entwerfen, auf Augenhöhe mit dem Stand der
Technik zu sein. Licht zu gestalten bedeutet letztlich nicht nur, sich mit der Materie zu befassen, sondern auch mit der Energie. Und vor allem tut man sich gut daran, darauf zu achten, die begrenzten Ressourcen unseres fragilen Planeten zu schonen.


LICHTMITTEILUNG:
Die einzelnen Module von „Alphabet of Light“ können nicht nur zu komplexen Strukturen verbunden werden, sondern auch zu Buchstaben des Alphabet; Credit: PR

Von all Ihren Projekten: Haben Sie einen Lieblingsentwurf?

Sie fragen doch auch keine Mutter, was ihr liebstes Kind ist! (lacht) Aber gut: Besonders stolz bin ich auf „Alphabet of Light“, einen unserer Bestseller, den wir in Zusammenarbeit mit dem dänischen Architekturbüro BIG entworfen haben. Eine durchgehende Lichtlinie, die den Raum mit geraden und gebogenen Modulen ausfüllt, ohne dass Sie eine Verbindung sehen. Ein bisschen wie eine unendliche Leuchtstoffröhre, wenn Sie so wollen. Es hat ganz schön lange gedauert, bis alles so funktioniert hat, wie wir es uns vorgestellt haben. Das System haben wir auch patentieren lassen. Das Licht wird gewissermaßen über eine Fuge geleitet, sodass Sie, wenn Sie ein Element mit dem anderen verbinden, die Fuge nicht mehr sehen. „Alphabet of Light“ folgt meinem Credo, dass Reduktion der Schlüssel zur Innovation ist. Je mehr Sie sich in Bezug auf Material und Dekor einschränken, desto mehr müssen Sie sich mit den Grenzen des Machbaren auseinandersetzen. Und je mehr Grenzen Sie sich ausgesetzt sehen, umso innovativer können Sie am Ende sein. Die Leuchte sieht zwar minimalistisch aus, enthält aber bahnbre- chende optoelektronische und mechanische Innovationen.

Klingt so, als bräuchten Sie gar kein Physikstudium mehr?

Ich habe mir in den letzten Jahrzehnten vieles angeeignet und mit großer Demut erklären lassen. Ich lese viel zu den Themen Soziologie und Physik – grundsätzlich alles, was mir hilft, das Leben besser zu verstehen. Tag für Tag ziehe ich Bilanz und frage mich, was ich bisher geleistet habe und was ich der Menschheit hinterlassen werde. Letztlich geht es ja nicht so sehr um ein Studium, sondern darum, unserem Leben einen Sinn zu geben. Man muss neugierig sein, einfühlsam und bescheiden, offen für den Wissensaustausch und bereit, mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Disziplinen zusammenzuarbeiten. Nachhaltiges Lichtdesign bedeutet für mich, Verantwortung für unsere gemein- same Zukunft zu übernehmen. Licht ist eine Notwendigkeit, ohne die wir nicht überleben können. Es ist zwar unsichtbar, aber es macht die Welt sichtbar. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir Licht nicht nur aus der gestalterischen Perspektive betrachten, sondern als etwas, das in der Lage ist, Energie in etwas Sinnstiftendes zu übersetzen.