
Nachdem man sie im Kino in „ADN“ von MAÏWENN und in der Serie „MOLOCH“ auf ARTE gesehen hat, das Porträt einer zurückhaltenden Frau, für die die Rolle der Befragten eine schöpferische Rolle ist.
Als Schauspielerin und Botschafterin für das Haus CHANEL geht sie unauffällig, aber entschlossen ihren Weg.
GEHEIMNISVOLL
Marine Vacth ist sanft und höflich. Weder provokant, noch ergreift sie die Flucht nach vorn. Ganz im Gegenteil. Ihre berühmten graugrünen Augen lassen Sie nicht mehr los. Doch selbst wenn sie vor der Kamera alles gibt, rechnen Sie nicht damit, dass sie ihre Schattenseiten preisgibt. Am liebsten möchte sie vor Ihren Fragen davonlaufen. „Ich bin damit nicht glücklich“, gesteht die Schauspielerin ein. Sie fürchtet, dass ihr Wort wie in Stein gemeißelt bleibt, obwohl alles ständig in Bewegung ist, sie selbst eingeschlossen.
„Wenn ich mehr Selbstvertrauen hätte, würde ich dieses Gespräch wahrscheinlich entspannter angehen“, gibt sie zu. Warum diese große Angst? Sie hat gute Filme am Start und sie ist kein „Flop-Model“. Sie, die die Schule vor dem Abitur abgebrochen hat, um sich in die Filmkunst zu „stürzen“, weiß sich um einiges besser auszudrücken als viele Doktoranden. Wenn sie also sagt: „Ich habe nichts zu sagen“, glaubt man ihr natürlich nicht. Auch ist sie nicht in sozialen Netzwerken aktiv. „Nicht um mich zu schützen, denn man kann vernünftig damit umgehen, sondern weil es mich nicht interessiert.“ Einfach nur unauffällig? Auch nicht, denn ihre bloße Anwesenheit überstrahlt alles andere. Und unter ihrer Anmut schwelt immer noch das Feuer.
AUTODIDAKTIN
Geheimnisvoll, obwohl … Über ihre Kindheit in Maisons-Alfort, weit weg von zu Hause, ihren Bruder, ein Alpenjäger, „der ihr sehr ähnlich sieht“, ihren Lebensgefährten, den Fotografen Paul Schmidt, und ihren Alltag als sehr junge Mutter des sechsjährigen Henri, werden wir nichts erfahren … Und noch weniger über ihre Verpflichtungen. „Ich finde es ein wenig peinlich, ja sogar unanständig, über ernste Themen zu sprechen und meine Überzeugungen in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen und gleichzeitig als Muse einer Luxus- marke über Schönheit zu reden. Ich sage nur privat, was ich denke. Jeder Mensch lebt mit seinen Widersprüchen.“
Wir nutzen trotzdem die Gelegenheit, die Geschichte zu überprüfen: Ja, sie wurde tatsächlich mit 14 Jahren ent- deckt, als sie mit ihrer Mutter bei H&M einen Einkaufsbummel machte. Ja, sie hat einen braunen Gürtel im Judo. Sie macht kein Judo mehr, möchte aber gerne wieder einen Kampfsport treiben. Yoga? Das hat sie einmal in Griechen- land ausprobiert. „Es war toll, ist aber in Griechenland geblieben.“ Ja, sie raucht (und versteckt sich dafür nicht), isst, worauf sie Lust hat, und züchtet „leckere Tomaten“ auf ihrem Balkon …
Nein, sie war sich ihres Aussehens vorher nicht bewusst und hatte nie vor, Model zu werden. Geschweige denn Schauspielerin; sie hat nie Unterricht genommen. Selbst wenn sie ihre ersten Schritte in Cédric Klapischs „Ma part du gâteau“ gemacht hat, kam der Durchbruch mit François Ozon während der Dreharbeiten zu „Jeune & Jolie“ und dann mit „L’Amant Double“. „Ich fühlte mich wie eine Laborantin und wollte weitermachen. So erlernte ich diesen Beruf gleichzeitig mit der Mutterschaft.“ Dieses Baby hätte ihre Karriere abrupt beenden können. Aber sie hat alles problemlos bewältigt und nie aufgehört zu arbeiten. Innerhalb von knapp zehn Jahren kann sie bereits eine beachtliche Filmografie vorweisen.
VOM MÄRCHEN ZUM THRILLER
Bei Vergleichen, bei den Medien sehr beliebt, wurde Isabelle Adjani oft für ihre Aura, Catherine Deneuve für ihre Verkörperung der Belle de jour, Charlotte Rampling für das Betörende und ihre Katzenaugen, Béatrice Dalle für ihre Verwegenheit und Nacktheit zitiert. Sie liebt sie alle und wäre am liebsten genauso einzigartig, aber bei der Erwähnung von Gena Rowlands und Meryl Streep leuchten ihre Augen. Ertappt, verschließt sie sich sogleich wieder: „Als Zuschauerin reißen mich diese beiden wirklich mit, aber es gibt noch so viele andere …“ Sie möchte auch nicht die Regisseure nennen, mit denen sie gerne zusam menarbeiten würde. „Wenn ich es sage, habe ich Angst, dass es nicht passieren wird.“ Abergläu bisch? Es ist verständlich, dass das verzauberte Universum von Matteo Garrone sie verführt hat. In „Pinocchio“, im April auf Amazon Prime Video veröffentlicht, verkörpert sie eine bezaubernde blaue Fee. Nach dem traumhaften Universum von „Pinocchio“ geht es zurück ins wirkliche, oft weniger rosige Leben.
Ende Oktober sah man sie auf Arte in der Serie „Moloch“, einem Thriller von Arnaud Malherbe. Die Kulisse erinnert an eine labyrinth artige Industriestadt an der Küste, in der Fremde grundlos Feuer fangen. Und dieses Mal hatte sie damit nichts zu tun! „Ich spiele Louise, eine junge, etwas verloren wirkende Journalistin, die sich behaupten will, und zusammen mit Gabriel, einem Psychiater mit einer trüben Vergangenheit, gespielt von Olivier Gourmet, die Ermittlungen leitet.“ Sie ist auch in Maïwenns Film „ADN“ (Kinostart am 28. Oktober) zu sehen, der in Cannes für die Goldene Palme 2020 nominiert wurde, mit Fanny Ardant und Louis Garrel in den Hauptrollen. Hier spielt sie Lilah, die Schwester von Maïwenn. „Es ist eine Geschichte über Familienbeziehungen und das Thema Trauer. Und eine schöne Begegnung. Maïwenn ist direkt, präsent und perfekt … Ich liebe das.“
DIE MUSE
Dennoch vergisst sie weder ihr Debüt als Model noch ihre Rolle als Muse. Mit Chanel hat die Geschichte bereits mehrere Episoden. Im Jahr 2014 wirkte sie an dem Buch „La Petite Veste Noire“ von Karl Lagerfeld und Carine Roitfeld mit; 2017 wird sie zur Botschafte rin des Hauses und zum Gesicht der Kreuzfahrt kampagne ernannt, fotografiert von King Karl; 2019 wird sie das Gesicht der MakeupLinie Les Beiges; und seit April 2020 leiht sie ihr Konterfei der Tasche Chanel 19. Für Marine ist das nichts Ungewöhnliches. „Heutzutage modeln viele Schauspielerinnen, und für Chanel zu arbeiten lehnt man nicht ab. Es ist ein Unternehmen, das mir sehr gut gefällt, weil es sowohl Treuegefühl als auch Teamgeist besitzt.“ Es gibt ihr auch die Freiheit, ihre Rollen im Kino zu wählen und ihr Tempo selbst zu bestimmen.
DIE LIEBE ZUM SPIEL
Seit Mitte August ist sie wieder für zwei neue Projekte am Set: In Brieuc Carnailles erstem Spielfilm, „Le Soleil de trop près“, spielt sie eine Lehrerin; und für den in Chile geborenen belgischen Filmemacher Giordano Gederlini übernimmt sie diesmal die Rolle einer Polizistin. Wie hat sie sich diese Figuren vorgestellt? „ Sie wirken in mir, und dann passiert alles am Set.“ Die Schauspielerin macht aus ihrer Arbeit keine Wissenschaft: Sie geht nach vorn, engagiert sich, experimentiert, geht Risiken ein, lernt und vertraut dem Regisseur und dem Drehbuch … „Vor allem möchte ich mit Menschen zusammenkommen, deren Universum ich liebe, und meinen Teil dazu beitragen, so gut ich kann. Mich interessiert nicht nur das Spiel, sondern das ganze Abenteuer macht mir Spaß. An einem Projekt mitarbeiten. Mit jemand anderem zusammen spielen, von anderen erdachten Text sprechen …“ Immer dieser Drang, sich zu verstecken. Und zu flüchten. Man kann nun besser verstehen, warum sie dieses Zitat von Coco Chanel liebt: „Wenn du ohne Flügel geboren wurdest, tu nichts, um sie am Wachsen zu hindern.“ Der Start ist gelungen.
Interview: Marion Louis